Pit Goldschmidt, geb. am 18. November 1935 in Hamburg,
ist in der Nacht zum 31. Mai 2021 in Hamburg verstorben.
Aus aktuellem Anlass veröffentliche ich einen Beitrag, den Bettina P. Oesten, Mitglied von Room 28 e.V., für die dänische Lokalzeitung "Nordschleswiger" anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2019 schrieb. Er erschien am 26. Januar 2019. Pit Goldschmidt
war im April 2009 auf Einladung von Room 28 e.V. in Berlin zu Gast.
Aus dem "Nordschleswiger", 26. Januar 2019
„Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden“
Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar sprach der Nordschleswiger in Hamburg mit dem Holocaust-Überlebenden Pit Goldschmidt über den wiedererstarkenden Antisemitismus unserer Zeit und darüber, wie man ihm begegnen sollte .
Von Bettina P. Oesten
Hamburg. Man nennt ihn den ältesten Hass Europas. Den Antisemitismus. Bekannte Persönlichkeiten haben ihn offen propagiert, angefangen bei Luther, der mit brutalen Gewaltaufrufen gegen Juden hetzte, über Martin Heidegger, der von „der Verjudung unserer Kultur und Universitäten“ sprach, bis hin zu AfD-Chef Alexander Gauland, der in einer Rede das Nazi-Regime als „Vogelschiss“ der Geschichte abtat. In Deutschland werden Menschen jüdischen Glaubens heute wieder auf offener Straße von Passanten übel beschimpft und bedroht oder wird in den sozialen Medien völlig enthemmt gegen sie agitiert. In Frankreich, dem Land mit der größten jüdischen Gemeinde Europas, entscheiden sich immer mehr Juden für die Auswanderung. Und ausgerechnet in Dänemark, einem Land, das 1943 mehrere Tausend Juden zur Flucht nach Schweden verhalf, haben viele mittlerweile Angst davor, sich öffentlich als gläubige Juden zu erkennen zu geben.
Ich treffe Pit Goldschmidt beim Griechen an der Alster. Das Restaurant hat er sich ausgesucht. Nach jahrelangen Bemühungen habe ich ihn endlich dazu überreden können, mir ein Interview zu geben, seine Medienscheue zu überwinden. Dabei würde seine Lebens- und Leidensgeschichte genügend Stoff für ein Buch liefern.
Ich kann es keinem Menschen zumuten, sich das, was ich zu erzählen hätte, anzuhören.
Als Sohn einer bekannten jüdischen Bankiersfamilie kommt er 1935 in Hamburg zur Welt. Nur wenige Monate alt wird er von seinen Eltern getrennt, verbringt viele Jahre in einem katholischen Kinderheim in München, findet sich irgendwann allein auf der Straße und zweimal im Konzentrationslager Dachau wieder, während sein Vater und drei Halbschwestern in Auschwitz und seine Mutter in Theresienstadt ums Überleben kämpfen. Er und seine Eltern kommen wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, seine Halbschwestern nicht. Über seine Erlebnisse in Dachau schweigt er sich größtenteils aus, nur so viel hat er mir über die Jahre verraten: Deutsche KZ-Ärzte nahmen im Häftlingslazarett an ihm medizinische Versuche vor, an deren Spätfolgen er noch heute leidet. Unzählige Operationen musste der 84-Jährige deshalb über sich ergehen lassen, weitere stehen in Aussicht.
"Der Holocaust bleibt ein Leben lang eine zentnerschwere Last.
Umso mehr bereitet es mir Sorgen, dass Europa wieder in den Totalitarismus abzudriften droht, siehe Polen, siehe Ungarn",
so Pit Goldschmidt.
"Was dort geschieht, das wünscht sich die AfD für Deutschland auch. Vor allem wünscht sich die AfD eines: Macht, Macht, Macht. Die Zerrissenheit der Altparteien bietet dazu genügend Gelegenheit. In ihrem Machtbestreben machen Leute wie Alexander Gauland und Björn Höcke mal eben so im Handumdrehen den Antisemitismus wieder salonfähig, indem der eine die zwölf Jahre Nazi-Terrorherrschaft als ‚Vogelschiss in der tausendjährigen erfolgreichen deutschen Geschichte‘ bezeichnet und der andere das Holocaust-Mahnmal in Berlin ‚Denkmal der Schande‘ nennt, von ‚dämlicher Bewältigungspolitik‘ spricht und sagt, Deutschland brauche keine toten Riten mehr.
Wenn solche Sätze fallen, gibt es immer einen Aufschrei der sogenannten Anständigen. Den gab es auch, als der Schriftsteller Martin Walser von der ‚Moralkeule Auschwitz‘ sprach oder der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi in einer Spiegel-Ausgabe meinte, Juden würden aus dem schlechten Gewissen der Deutschen eigene Vorteile schlagen und es missbrauchen, ja manipulieren. Aus solchen Sätzen, ausgesprochen von gebildeten Leuten, spricht immer auch Antisemitismus. Aufschrei hin oder her, der Antisemitismus schwelt immer unter der Oberfläche, und ist er auch noch so subtil.“
Im Grunde würden solche Beispiele zeigen, dass der Holocaust und die Nazizeit in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft hinein nie restlos aufgearbeitet worden seien, so der gelernte Außenhandelskaufmann weiter. Und das trotz Entnazifizierung, trotz aller ernsthaften Ansätze der Vergangenheitsbewältigung, trotz Endlos-Sendereihen wie ZDF-History über den Nationalsozialismus, die zwar gut und wichtig seien, aber oft zu nachtschlafender Zeit ausgestrahlt würden. Wer bliebe schon so lange wach, um sich die Gräueltaten der Nazischergen anzusehen? Jugendliche, die daraus eine Lehre für die Zukunft ziehen könnten, bestimmt nicht. Die Lehre etwa, dass nur die Erinnerung an Kriege den Frieden zu bewahren helfe. Vor diesem Hintergrund sei es nicht verwunderlich, dass der latent vorhandene Antisemitismus immer wieder seine hässliche Fratze in der Öffentlichkeit zeige, nicht zuletzt befeuert durch geistige Brandstifter und Provokateure wie Gauland, Höcke und Konsorten.
Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden.
Das Lokal füllt sich immer mehr mit Gästen, die sich fröstelnd und händereibend zu ihren vorbestellten Tischen führen lassen. Es ist kalt in Hamburg. Der Geräuschpegel steigt, am Nachbartisch wird gescherzt und laut gelacht, das macht die Unterhaltung nicht einfacher. Wir befinden uns zum Glück in einem geschützten öffentlichen Raum, in dem mein Gegenüber nichts zu befürchten hat.
Merkwürdig, dass mir überhaupt der Gedanke kommt, er könnte Übergriffen, egal welcher Art, ausgesetzt sein. Es ist doch alles gut – hier beim Griechen an der Alster. Außerdem: Er ist kein Nutzer der sozialen Medien wie Facebook, wenigstens bleiben ihm so die anti-jüdischen Hassparolen und Schmähungen erspart, die heute völlig ungeniert dort skandiert werden: „Niemand schützt euch, ihr werdet alle in der Gaskammer landen“, „Stecht die Juden ab“, „Scheiß Jude!“ „Wir brauchen Hitler!“, „KZ öffnen“ sind nur einige Beispiele von vielen, die aufzeigen, dass bei dem Thema jegliche Schamgrenzen und Hemmschwellen gefallen sind.
Im Zentrum des Social-Media-Antisemitismus stehen meist wilde Gerüchte oder verworrene Theorien von der „jüdischen Weltverschwörung“. Gerüchte, die sich umso hartnäckiger halten, je unwahrscheinlicher sie sind. „Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden.“
Der Satz stammt von Theodor W. Adorno.
Gerüchte über Juden machten zu
allen Zeiten die Runde. Im Mittelalter waren sie Gottesmörder, Brunnenvergifter, Hostienschänder. Heutzutage werfen ihnen Verschwörungstheoretiker z. B. vor, als Drahtzieher hinter der weltweiten Finanzkrise oder den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu stecken. Bei negativen Fehlentwicklungen und immer dann, wenn das Gefühl von unheimlichen Mächten auftaucht oder vorherrscht, werden die Vorurteile oder der Hass gegen sie geschürt, werden die Verbrechen gegen sie geleugnet. Ich werde mich davor hüten, ihm gegenüber die Parolen aus dem Internet zu zitieren. Ich glaube, es ist besser so.
Nach dem Essen einigen wir uns darauf, das Gespräch abzubrechen und es am darauffolgenden Nachmittag in ruhiger Umgebung fortzusetzen. Er braucht eine Verschnaufpause.
Wer weiß schon, ob ich morgen noch da bin.
Am nächsten Tag steigt er zur verabredeten Zeit aus dem Taxi, untergehakt gehen wir zum Steakhouse in der Hafencity, wo um diese Zeit noch wenig Betrieb ist. Er hat schlecht geschlafen, hatte mehrere Stunden lang Schüttelfrost. Sind es unsere Gespräche? Ja, wahrscheinlich. Aber ich soll mir keine Vorwürfe machen. Das sei immer so, wenn er sich intensiv mit dem Thema befasse. Eigentlich vergehe kein Tag, wo er nicht mit dem Thema in der einen oder anderen Weise konfrontiert sei, unser intensiver Austausch ginge ihm aber schon sehr unter die Haut. Lieber abbrechen? „Nein“, sagt er, „wir ziehen das jetzt eisern durch. Wer weiß schon, ob ich morgen noch da bin.“
Er bestellt sich ein saftiges Steak, dazu Pommes und Salat. Eigentlich viel zu viel für ihn, meint er, aber Zuhause hat er keine Lust zu kochen. Seine 97-jährige Nachbarin, fit wie ein Turnschuh, erhält ihn am Leben, kocht für ihn mit, klingelte zuletzt heute Vormittag an seine Haustür, um ihm ein warmes Müsli zu bringen. Sein Schmunzeln geht in ein breites Lachen über. Er lacht oft und gern und viel.
„Die Juden wurden schon immer verfolgt, die jüdische Urangst sitzt ganz tief. Kein Jude möchte das, was im Dritten Reich passiert ist, nochmal erleben. Niemals. Wer nicht Verfolgung am eigenen Leib erfahren hat, wird es nur schwer verstehen.“
Wir sind wieder bei unserem Thema. Antisemitismus. Wie begegnet man ihr, der Judenfeindlichkeit unserer Tage, möchte ich von ihm wissen? Mit Verboten? Sollte man sie unter Strafe stellen, so wie z. B. die Leugnung des Holocaust in vielen Ländern Europas, darunter allen deutschsprachigen, unter Strafe gestellt ist?
Nein, auf keinen Fall, meint er entschieden. Man sollte den Antisemitismus nicht unter Strafe stellen, weil dann der Raum für freie Diskussion eingeschränkt würde. Und ohne öffentliche Diskussion könnte sich heimlich, still und leise etwas entwickeln oder zusammenbrauen, was die Öffentlichkeit zunächst gar nicht mitbekomme und was sich letztlich negativ auf die Gesellschaft auswirken könne. Auch die Diskussion – oder der Versuch eines Dialogs – mit Menschen, die uneinsichtig seien und auf ihre Ansichten beharrten, und seien diese auch noch so abwegig, gehöre dazu.
Wir müssen alle aufstehen, klare Kante zeigen, uns einmischen
„Ich erzähle dir mal ein Beispiel. Einmal saß ich mit meiner damaligen Freundin in einem Restaurant. Am Nebentisch saßen vier Herren, die über Ausländer und schließlich auch über Juden herzogen. Meine Freundin stieß mich die ganze Zeit an und meinte, ich sollte mich auf keinen Fall einmischen. Sie kannte ja mein Temperament. Ich stand aber auf und bin zu den Herren hingegangen, sprach sie an, sagte, ich hätte ihr Gespräch mitbekommen, das hätte sich gar nicht vermeiden lassen. Ich hätte dazu eine Frage, und zwar diese: Wer von Ihnen, meine Herren, ist vor Ihrer Geburt gefragt worden, ob er Deutscher, Engländer, Russe, ob er weiß, gelb, schwarz, ob er Jude, Christ oder Muslim sein möchte.
Dann habe ich noch so ein paar Sachen gesagt, und da konnten sie einfach nicht drauf antworten. Sie haben sich auf keine Diskussion eingelassen, sie haben einfach geschwiegen. Du glaubst gar nicht, wie schön das war. Plötzlich war da Ruhe. Was sie hinterher gesagt haben, weiß ich nicht. Interessierte mich auch nicht. In unserer Gegenwart haben sie jedenfalls keine anti-jüdischen Sprüche mehr geklopft. Nur das hat mich interessiert. Wie hätte ich mich als Jude in der Situation anders verhalten sollen? Für mich war das ganz selbstverständlich. Es sollte aber nicht nur für mich selbstverständlich sein. Wir müssen alle aufstehen, klare Kante zeigen, uns einmischen, wenn es die Situation von uns erfordert. Das sind wir uns selbst und unseren Mitmenschen schuldig.“
Das Steak hat er inzwischen allein verputzt, bei den Pommes darf ich ihm ein bisschen helfen. Er lacht und schiebt den Teller in meine Richtung. „Komm, min Deern, dass du mir ja nicht hungrig nach Hause gehst.“ Nie ist er um einen auflockernden Satz oder Scherz zwischen den schweren Fragen verlegen. Er hat mir immer wieder gezeigt, was es heißt, Haltung und Würde zu bewahren. Auch heute.
Er war nur wenige Monate alt, als ihn seine Eltern kurz nach Erlassung der Nürnberger Rassengesetze zu seinem eigenen Schutz in ein katholisches Kinderheim nach Bayern brachten. Dort sollte er die nächsten Jahre in Sicherheit verbringen, durch unglückliche Umstände kam er dennoch mit acht Jahren zweimal ins Häftlingslazarett nach Dachau und erlebte dort etwas, was er seitdem nicht, oder nur in winzigen Bruchstücken, hat aussprechen können. Medizinische Versuche – aber was das für Versuche waren, darüber kann oder möchte er nicht sprechen. Aus Rücksicht auf seine Zuhörer.
"Ich kann es keinem Menschen zumuten, sich das, was er zu erzählen hätte, anzuhören",
sagt er und ringt einen Moment um Fassung.
Pits Eltern - für ihn sind sie Fremde
Zwei Jahre nach dem Krieg lernt er als Zwölfjähriger die letzten fünf Verwandten kennen, die Theresienstadt und Auschwitz überlebt haben, darunter seine Eltern. Für ihn sind sie alle Fremde, er hat sie nie zuvor gesehen. Er muss mit Menschen zusammenleben, die mit ihren Leidensgeschichten und Traumata unfähig sind, sich untereinander auszutauschen. Es herrscht Fassungs- und Sprachlosigkeit – die bis heute anhält. *
Es wird langsam dunkel. Draußen wartet schon das Taxi, das ihn sicher nach Hause bringen wird. Wir gehen zusammen dorthin. Der Taxifahrer macht einen netten Eindruck, sein Passagier wird ihn in ein Gespräch verwickeln, da bin ich mir ganz sicher. Über Politiker ohne Lebenserfahrung, über eine Gesellschaft ohne Vorbilder und Orientierung. Seine Lieblingsthemen. Wird er ihm auch von unserem Gespräch erzählen? Er wirkt nicht so müde wie gestern, ich glaube, er verspürt Erleichterung. Gestern und heute hat er eine wichtige Hürde genommen. Vielleicht schafft er es, auch die nächste zu nehmen – mit einer noch unerzählten Überlebensgeschichte, die seit über siebzig Jahren darauf wartet, niedergeschrieben und gelesen zu werden.
ZITATE:
„Wir müssen alle aufstehen, klare Kante zeigen, uns einmischen, wenn es die Situation von uns erfordert. Das sind wir uns selbst und unseren Mitmenschen schuldig“
Pit Goldschmidt, Holocaust-Überlebender
„Die Juden wurden schon immer verfolgt, die jüdische Urangst sitzt ganz tief. Kein Jude möchte das, was im Dritten Reich passiert ist, nochmal erleben. Niemals.“
Pit Goldschmidt, Holocaust-Überlebender
FOTO: Der 84-jährige Holocaust-Überlebende Pit Goldschmidt gab vergangene Woche dem Nordschleswiger ein exklusives Interview in Hamburg.
Mit Dank an die Redaktion des Nordschleswiger,
die die Veröffentlichung ebenfalls autorisierte und eine PDF Datei zur Verfügung stellt.
* Anmerkung HB:
Die Eltern von Pit Goldschmidt waren Käthe Starke und Martin Starke. Käthe Starke wurde 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Ihre Erlebnisse dokumentierte sie u.a. in dem Buch, genannt nach dem Propagandafilm: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Mehr unter: Käthe Starke-Goldschmidt
und Martin Starke