„Schreiben Sie einen Lebenslauf auf eine Seite“ – hieß es in den Aufnahmeformularen für die Shdanow-Universität in Leningrad, die ich ausfüllen musste, als ich mich im Jahre 1950 für ein Studium an der Fakultät für Philologie bewarb. Auch ein Fragebogen lag bei. Er enthielt drei für mich heikle Fragen: Wo sind Sie geboren? Welche Nationalität haben Sie? Waren Sie in deutscher Gefangenschaft oder unter deutscher Okkupation?
Ich antwortete wahrheitsgemäß: Ich, Evelina Moissejewna Mer, wurde in Prag geboren. Ich bin Jüdin. Und: Ja. Ich war elf Jahre alt, als ich ‚unter deutsche Okkupation‘ geriet.
Was sollte ich aber nun in dem Lebenslauf schreiben? Auf eine Seite? - Ich weiß noch, wie Bilder an mir vorüberzogen - meine glückliche Kinderzeit in Prag, das Leben im Ghetto Theresienstadt im Zimmer 28, das Familienlager Auschwitz-Birkenau, die Arbeitslager Stutthof, Dörbeck, Guttau, der Tod meiner Eltern, meiner Schwester und nächsten Verwandten, die Befreiung, die Begegnung mit Doktor Mer, das Kriegsende in Sysran, und das neue Leben in Leningrad…
Sollte ich darüber schreiben? Was sollte ich überhaupt schreiben? Ich ahnte ja, dass mein tatsächlicher Lebenslauf den Erwartungen der Kommission, die über meine Bewerbung zu entscheiden hatte, nicht entsprechen würde....
Foto: Evelina Mer, geb. Landová, um 1946 in Leningrad.