Heute am 30. April jährt sich der achte Todestag von Anna Hanusová, geb. Flachová, die Seele des Projektes mit und über „Die Mädchen von Zimmer 28“. Seither vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Sie ist verwoben in das, wofür sie und ihre Freundin Helga Kinsky, geb. Pollak (1930-2020) angetreten waren, und was mir als ihre Verbündete seit 1996 zur Lebensaufgabe und Herzensangelegenheit wurde – die Erinnerung an die „Mädchen von Zimmer 28“, die im Holocaust ermordet wurden, wachzuhalten. Und dies nicht um der bloßen Erinnerung willen, sondern weil sie damit einen Wunsch und eine Hoffnung verbanden, in den Worten von Anna Hanusová, "
dass mit der Erinnerung an unsere Freundinnen und an die wunderbaren Menschen, die sich um uns Kinder kümmerten, auch jene menschlichen Werte weiterleben, die für uns so wichtig wurden: Toleranz, Mitgefühl, Bildung, Kultur, Freundschaft und Liebe."Als Anna, die von ihren Freundinnen Flaška genannte wurde, am 7. Mai 2014 in Brünn zu Grabe getragen wurde, war ich nicht dabei. Noch heute denke ich mit einer Mischung aus Schuldgefühl, Wehmut und Trauer daran. War es richtig, mit ihrer besten Freundin Helga Kinsky nach Klagenfurt zu fahren, wo man uns an diesem Tag für eine Lesung im Robert-Musil-Institut erwartete? War es richtig, nachzugeben, als mir Helga erklärte, sie könne nicht nach Brünn fahren, es würde ihr das Herz zerreißen und lieber führe sie mit mir nach Klagenfurt?
Helga und ich waren an jenem 7. Mai 2014 in Klagenfurt. Helga las aus ihrem Theresienstädter Tagebuch. Ich verband wie immer bei unseren Lesungen erzählerisch ihre Aufzeichnungen mit dem Geschehen im Zimmer 28 und in Theresienstadt. Natürlich haben wir bei der Reise und bei der Veranstaltung immer an Flaška gedacht; auch bei allen weiteren Veranstaltungen und Gesprächen.
Ohne Flaška, das wissen alle, die um die Anfänge des Projektes wissen, ist das Erinnerungsprojekt mit und über „Die Mädchen von Zimmer 28“ nicht denkbar. Sie ist die Initiatorin und die Seele des Ganzen. Was ich als Autorin hervorgebracht habe – das Buch, die Ausstellung, das Theaterstück, das Room 28 Bildungsprojekt – alles wurde von ihr inspiriert. Von Flaška und ihrem Poesiealbum; von Helga und ihrem Tagebuch. Auch von der Kinderoper
Brundibár, die mich auf die Spuren der beiden Freundinnen gebracht hatte.
Damals, 1996, bei unseren ersten Begegnungen und Gesprächen, ist etwas für mich ganz Tiefes und Entscheidendes geschehen; etwas, das mich antrieb, vorantrieb und immer noch vorantreibt - kein Ende in Sicht; und doch ein Ende suchend. Zu viel hat sich in den letzten acht Jahren grundlegend verändert. Eine Transformation ist im Gange.
Sicherlich, das Versprechen, das ich Flaška und Helga vor 26 Jahren gab, dabei zu helfen, ein bleibendes Gedenken zu schaffen, hat mich ständig vorangetrieben, auch dann noch, als das Buch "Die Mädchen von Zimmer 28" im Droemer Verlag erschien und im gleichen Jahr die gleichnamige Ausstellung entstand; auch das Manuskript eines Theaterstücks lag vor, Aufführungen folgten. Trotzdem – bis heute herrscht das Gefühl vor, das Versprechen nicht voll eingelöst zu haben. Und dies, obgleich all das, was sich aus dem Buch, der Ausstellung und aus dem Theaterstück ergab, all die Orte, an denen wir waren und die Veranstaltungen, zu denen es kam, sich wie eine Erfolgsgeschichte liest. Warum dann immer noch das Gefühl, nicht ausreichend genug getan zu haben? Bei solchen Fragen denke ich immer an Flaška. Denn ihrem Herzen ist unser Erinnerungsprojekt entsprungen.
„Flaška - das ist tschechisch für eine Flasche“, erklärte Anna oft, wenn sie auf ihren Spitznamen Flaška angesprochen wurde und fügte, wohl wissend um die deutsche Konnotation des Ausdrucks, lächelnd hinzu. „Ich bin aber keine Flasche. Vielleicht ein kleines Fläschlein, ein Flašticko, wie das im Tschechischen heißt.“
Das Bild einer Flasche mag einem visuellen Menschen dazu dienen, sich Annas Geburtsnamen zu erinnern, gewiss aber nicht dazu, ihr Wesen zu beschreiben. Da heißt es, andere Bilder aufzufahren. Eine sprudelnde Quelle zum Beispiel. Eine Quelle jenseits der von Menschen zerstörten Naturlandschaften. Flaška war eine durchaus quirlige Frau, eine Frau voller Ideen, Unternehmungsgeist, Humor und intuitiver Kraft. Sie liebte Musik. Sie war Pianistin und Sängerin. Musik war ihr Element. Musik war ihr Herz. In der Musik lebte weiter, was sie als Kind erlebte – in Brünn und im Ghetto Theresienstadt. Auch die Etüden von Chopin, die die legendäre Alice Herz-Sommer in Theresienstadt immer wieder spielte, und von denen Flaška rückblickend sagte, dass sie während eines solchen Konzertes den Entschluss fasste, auch Pianistin zu werden.
Wie Alice Herz Sommer wurde Flaška an einem 26. November geboren. Flaška im Jahre 1930. Alice Herz-Sommer 27 Jahre zuvor, 1903. Zum 100. Geburtstag von Alice waren wir bei ihr in London. Flaška bedankte sich bei ihr für „the life-long inspiration“. Es war ein berührender Moment, wie sie vor ihr stand, Alices Hände fest umfasste und ihr von Herzen Dank sagte – festgehalten mit der Kamera und nachzuschauen in einem kleinen Film, den ich damals mit zwei britischen Filmemachern machte in der Absicht, damit einen Dokumentarfilm über „Die Mädchen von Zimmer 28“ auf den Weg zu bringen. Das Filmmaterial mit der wunderbaren Szene beim 100. Geburtstag von Alice ist erhalten; aus dem Dokumentarfilm wurde nichts.
Heute frage ich mich, was aus all dem wurde, was Flaška als moralische Aufgabe empfand – ihre Erlebnisse, Ideale und Werte mit jungen Menschen zu teilen, sie zu wappnen gegen solche Zeiten, wie sie sie erlebte in jungen Jahren, auf dass sie sich nicht wiederholten. Wie oft sagte sie im Gespräch mit jungen Menschen:
„Was ist schlecht daran, eine Jüdin zu sein? Bin ich schlecht, weil ich Jüdin bin? Es kommt doch auf den Menschen an; auf das Herz, das da drinnen ist.“
Solche Gedanken waren es, die meine Seele zum Schwingen brachten, und ich glaube auch die der meisten Anwesenden. Wie mit der kleinsten Berührung eine Seifenblase zerplatzt, schien Flaška in solchen Momenten das fatale Konstrukt Antisemitismus zum Zerplatzen gebracht zu haben. Mit einem mal schien Einigkeit darüber zu herrschen: Es handelte sich beim Antisemitismus um ein irreales, längst überwundenes Gebilde, künstlich am Leben gehalten von Vorurteilen und Klischees, die nur deshalb so hartnäckig weiter ihr Unwesen trieben, weil es immer noch Menschen und Mächte gibt, die ihr ganzes Arsenal an manipulativen, intriganten und propagandistischen Methoden aufbringen, um die Menschen für ihre Zwecke und Ziele einzuspannen. Aber im Grunde? Überwunden. Vergangenheit. Schließlich ist Deutschland Weltmeister in der Vergangenheitsbewältigung. Geschichtsaufarbeitung. Erinnerungskultur. Wirklich?
Jedenfalls: Wie von Zauberhand war die Seifenblase verschwunden, die dunkle Wolke Antisemitismus weggeblasen, wenn Flaška sprach. Ihre Botschaft kam an:
Es kommt auf den Menschen an, und nicht auf nationale, kulturelle, religiöse, politische oder geschlechtliche Zugehörigkeit; und schon gar nicht dürfen Klischees, Vorurteile, Ideologien und die Politik der Mächtigen dazu führen, Menschen zu verurteilen, sie ihrer Rechte zu berauben, Menschen zu verfolgen, Menschen zu töten, Kriege anzuzetteln.
Eine lange Zeitlang glaubte ich an die Bedeutung unserer gemeinsamen Erinnerungsarbeit. Flaškas Wunsch deckte sich mit dem meinen. Nie wieder Holocaust. Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Wir traten dafür ein, uns auf die eigentlichen Werte zu besinnen. Für eine bessere Zukunft anzutreten, für die Bedeutung der Kunst, Kultur, Kreativität eine Lanze zu brechen. Auch für die globale Etablierung der Menschenrechte. Wie sonst ist ein Weiterleben der Menschheit auf dieser Erde überhaupt denkbar? Ihre Freundin Handa hat es in ihren Zeilen zum Krieg auf den Punkt gebracht. Das Gedicht steht im vorletzten Blogeintrag.
Flaška und Helga, ihr fehlt mir!
Und mit euch alle, die unser Erinnerungsprojekt mitgetragen haben. Ich werde unsere gemeinsame Zeit niemals vergessen; und vielleicht immer den winzigen Funken Hoffnung auf eine bessere Welt in mir tragen, den ihr in mir angefacht habt, vermittels Eurer schrecklichen Erfahrungen; aber auch kraft eurer großen Hoffnungen, Eurer Liebe.
„Botschaften der Mädchen von Zimmer 28“ – so lautete unsere Veranstaltung, die wir in der Botschaft der Tschechischen Republik am 25. Januar dieses Jahres durchführten. „Botschaften der Mädchen von Zimmer 28“ ist der Titel eines neuen Ausstellungselements, ein Rollup zum Poesiealbum von Flaška. Rechtzeitig zur Ausstellung in Heide, ein Kooperationsprojekt des Vereins Room 28 e.V. mit dem Gymnasium Heide-Ost, konnte ich es dank einer Spende herstellen. Am 10. Juni wird die Ausstllung eröffnet.
Möge der „Geist aus der Flasche“, der Geist der geliebten Flaška, lebendig bleiben und seinem innersten Wesen gemäß in Gegenwart und Zukunft weiterwirken.