Einblick-3

Einblick-3

Einführendes Kapitel in die Neuausgabe des Buches Die Mädchen von Zimmer 28

 ©Hannelore Brenner. Edition Room 28. Erscheinungsdatum April 2025

Motive  der Vorveröffentlichung siehe Statement


Rückblick, 2024 (3)

Für Flaška war das Poesiealbum mehr als nur Erinnerung. Es wurde ihr zur moralischen Verpflichtung, das Andenken an die ermordeten Mädchen von Zimmer 28 wachzuhalten. Wann immer sie das Album zur Hand nahm und darin blätterte, sah sie die Mädchen im Geiste vor sich, blickte in traurige Augen. Vergiss mich nicht, schienen sie ihr aus der Vergangenheit zuzurufen: Weißt du noch? Wir haben uns ewige Treue geschworen.

»Unter dem Glockenturm auf dem Altstädter Ring in Prag warten wir an einem der ersten Sonntage nach dem Krieg aufeinander.« Das versprachen sich die Mädchen, wenn sie voneinander Abschied nehmen mussten. Und sie bekräftigten dieses Versprechen mit einer Formel, die aus ihrem Munde wie eine Beschwörung und eine geheime Losung zugleich geklungen haben muss:

Věříš mi – věřím ti, víš, jak vím, buď, jak buď, nezradíš – nezradím.


Du glaubst mir, ich glaube dir
Du weißt, was ich weiß
Was immer kommen mag
Du verrätst mich nicht
Ich verrate dich nicht.



Die Geschichte

Mehr als acht Jahrzehnte ist das nun her. Es war in den Jahren 1942 bis 1944. Damals waren Flaška und die Mädchen, die mit ihr im Zimmer 28 des Mädchenheims L 410 im Ghetto Theresienstadt lebten, zwischen 11 und 14 Jahre alt. Sie waren Ghetto-Häftlinge, einige der rund 76.000 Juden aus dem »Protektorat Böhmen und Mähren«, die mit dem Einrücken deutscher Truppen in ihre Heimat, der Tschechoslowakischen Republik, ihr Zuhause, ihr Hab und Gut und schließlich ihr Existenzrecht verloren und ins »Ghetto« Theresienstadt deportiert wurden. Dort, im Zimmer 28, trafen ihre Schicksalswege aufeinander.

Betreut von Erwachsenen, Ghetto-Häftlinge wie sie, lebten sie für eine Weile zusammen, schliefen auf zwei- und dreistöckigen Holzpritschen, nahmen gemeinsam ihre dürftigen Essensrationen ein, hörten am Abend der Betreuerin zu, wenn sie aus einem Buch vorlas, oder erzählten sich, wenn das Licht gelöscht wurde, von ihren Erlebnissen, ihren geheimsten Gedanken, Sorgen und Ängsten. Während Tausende von älteren Häftlingen unter desolaten Bedingungen lebten und an Hunger, Krankheiten und seelischem Leid zugrunde gingen, widmete sich eine Gruppe von Erwachsenen – Erzieher, Lehrer, Künstler, Zionisten – den Kindern. Sie waren entschlossen, sie zu beschützen, sie zu unterrichten, ihnen Mut zu machen. Und vor allem: sie auf eine bessere Zukunft vorzubereiten.

Doch immer wieder wurden einige Mädchen jäh aus ihren Reihen gerissen; sie mussten antreten zum gefürchteten »Transport nach Osten« – eine Metapher für die immer gegenwärtige Angst, die den Alltag beherrschte. Neue Mädchen kamen, neue Freundschaften entstanden. Dann wurde auch diese Gemeinschaft durch Transport erschüttert.
Und doch gab es Augenblicke, da erlebten die Kinder das Zimmer 28 als eine Insel der Freundschaft und der Hoffnung. Dann lernten, spielten, sangen sie oder malten und zeichneten im Unterricht mit der Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis.

Als ab Juli 1943 die Kinderoper »Brundibár« von Hans Krása und Adolf Hoffmeister geprobt wurde, waren auch einige der Mädchen vom Zimmer 28 dabei. Sie liebten diese Oper. Unter dem Druck der Geschehnisse wuchsen die Kinder zu einer Gemeinschaft zusammen, die in jedem Augenblick der immer gleiche Wunsch, die immer gleiche Hoffnung und Sehnsucht einte: Dass Deutschland bald besiegt und der Krieg endlich vorüber sein möge; eine Gemeinschaft auch, die sich eine Hymne und eine Flagge schuf und die eine Organisation gründete, den »Ma‘agal« – das ist hebräisch für Kreis und im übertragenen Sinne: Vollkommenheit. Es war das Ideal, nach dem sie strebten.

Im Herbst 1944 wurde das Band der Mädchen ein letztes Mal zerrissen. Und nachdem in einem einzigen Monat zwischen dem 28. September und dem 28. Oktober über 18.400 Menschen nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden waren, gab es kein Mädchenheim und kein Zimmer 28 mehr. – Nur fünf der Mädchen vom Zimmer 28 blieben in Theresienstadt zurück.

Flaška, später Anna Hanusová (1930-2014) wurde Pianistin und Sängerin. Ihr Sohn ist seit 2016 der Musikalische Direktor des Welsh National Opera House in Cardiff/Wales Tomáš Hanuš. 


Weitere Passagen folgen am 31. Januar 2025

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