Was im Süden Israels am 7. Oktober geschah, war ein furchtbares Massaker, ein Pogrom. Auf heimtückische und auf brutalste Weise wurden Hunderte von Israelis, auch Israel-Besucher, aus dem Leben gerissen, viele als Geiseln verschleppt. Während es Israels höchstes Ziel ist, sein Existenzrecht und sein Land zu verteidigen und seine Menschen zu schützen, was leider am 7. Oktober nicht gelang, ist es das höchste Ziel der Hamas und ihrer Verbündeten, Israel auszulöschen. Sie tun es ohne Rücksicht auf die eigene palästinensische Bevölkerung. Bewußt zieht die Hamas ihr eigenes Volk mit in den Abgrund.
Vor ein paar Tagen las ich einen Blog-Eintrag, der mich zum längeren Nach-Denken brachte. Geschrieben hat ihn Yossi Klein Halevi, ein israelischer Autor und Journalist. In seiner Stellungnahme zum Massaker der Hamas am 7. Oktober fand ich diese Passage:
"In the days immediately following the massacre, I received calls from several European journalists, asking if I saw this as a ‘Holocaust moment.’ They were sympathetic; they meant well. But I couldn’t give them the answer they were seeking. I don’t need Auschwitz to motivate me to defend myself against Hamas, I replied. (…)
Nor do I trust European sympathy for Israel that is based on the Holocaust. That support is unstable; today it is applied to dead Jews, tomorrow to dead Palestinians.”
https://blogs.timesofisrael.com/what-this-war-is-about/
(In den Tagen unmittelbar nach dem Massaker erhielt ich Anrufe von mehreren europäischen Journalisten, die mich fragten, ob ich dies als einen 'Holocaust-Moment' betrachte. Sie waren verständnisvoll, sie meinten es gut. Aber ich konnte ihnen nicht die Antwort geben, die sie suchten. Ich brauche Auschwitz nicht, um mich zu motivieren, mich gegen die Hamas zu verteidigen, antwortete ich. (…) Ich vertraue auch nicht auf die europäische Sympathie für Israel, die sich auf den Holocaust gründet. Diese Unterstützung ist instabil; heute wird sie auf tote Juden angewandt, morgen auf tote Palästinenser."
“Ich vertraue nicht auf die europäische Sympathie für Israel, die sich auf den Holocaust gründet“… Eine bedenkenswerte Aussage. Es ist leider wahr: Die Sympathie für Israel von deutscher Seite ist eine labile, schwankende und eine zerrissene. Und dies, obgleich für viele von uns Deutsche die Versöhnung mit Israel, die Solidarität mit Israel, der Kampf gegen Antisemitismus Teil unserer historischen Verantwortung, gleichsam ein ungeschriebenes Grundgesetz ist, aktuell und offiziell "Staatsräson" genannt. Doch was hilft uns das, wenn Hass und Gewalt und Antisemitismus sich in Deutschland ausbreiten und die Deutschen, zu denen ja auch Deutsche mit unterschiedlichem nationalen, kulturellen und religiösen Hintergrund gehören, trotz politisch geförderter Erinnerungskultur, von manchen im Ausland als vorbildhaft angesehen, nichts aus unserer deutschen und europäischen Geschichte gelernt haben und auch nicht lernen wollen?
„Fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld.“ Diese Worte sprach am 23. Januar 2020
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
bei der Holocaust-Gedenkstunde in Yad Vashem. „Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. (…) Ich wünschte sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“
Wohin man schaut - ein Abgrund
Angesichts der furchtbaren Ereignisse in Israel, angesichts eines unfassbar bösen, grausamen Massakers der Hamas an hunderten von Menschen, angesichts des Krieges, der uns nun auch im Nahen Osten droht, stehen deutsche Israel-Politik, deutsche Migrations-Politik, unsere so gutgemeinte Holocaust-Erinnerungskultur und das, was als “Holocaust Education“ bezeichnet wird, auf dem Prüfstand. Es ist ein Prüfstand auf einem schmalen, gefährlichen Grat in schwindelnder Höhe. Wohin man schaut – Abgrund. Und ein Himmel darüber, an dem man sich nicht festhalten kann.
Als ich am 12. Oktober 2023 in der
Landesvertretung Rheinland-Pfalz
im Rahmen unserer Kooperation-Veranstaltung mit dem
Otfried-von-Weißenburg-Gymnasium Dahn (OWG) - Room 28 e.V. und das OWG haben eine offizielle Partnerschaft besiegelt - im Namen unseres Vereins, auch als Autorin der Geschichte der "Mädchen von Zimmer 28" und des
Room 28 Bildungsprojekt
- eine Ansprache halten musste, tat ich mich schwer. Es lastete schwer auf mir, dass dieser Abend, der dem Gedenken an die im Holocaust ermordeten jüdischen Menschen und unserem gemeinsamen Willen galt, deren Botschaften der Humanität und deren Hoffnungen auf eine bessere Welt jungen Menschen zu vermitteln, von dem furchtbaren Pogrom in unmittelbarer Nähe des Gazastreifens am 7. Oktober in ein tief-schwarzes Licht getaucht wurde. Trotzdem – ich mußte Worte finden.
Wo ist das Herz der Welt
Im Geiste suchte ich Zuflucht bei einigen der Botschaften der „Mädchen von Zimmer 28“, die uns überliefert sind. Von Lenka Lindt (1930-1944) stammt der Satz: „Der Mensch ist auf der Welt um Gutes zu tun. Wer sich daran nicht hält, hat kein Recht, ein Mensch zu sein.“ So steht es in dem Poesiealbum von Anna Flach (später Anna Hanusová), im Freundeskreis Flaška
genannt. Ich erinnerte mich an das Motto von Flaška, inspiriert von den Worten, die ihr Margit Mühlstein 1944 in ihr Poesiealbum schrieb: „Es hat dir Theresienstadt nichts genützt, wenn du auch nur einen Menschen in deinem zukünftigen Leben unterdrücken wirst.“ Und Fragmente aus dem Notizbüchlein von Handa Pollak kamen mir in den Sinn. Sie schrieb wunderbare Gedichte.
„Brüder, hört auf, euch gegenseitig zu ermorden!
Habt ihr nicht genug? Wisst ihr nicht, dass ihr Menschen seid?
Seht ihr nicht, wie die Welt leidet? Alles ist mir Blut bedeckt!
Unmöglich ist es, sich davon zu erholen,
wenn das Herz des Menschen erschossen wurde.“
„Was ist des Herz der Welt“, fragte Helga Pollak, 13-jährig, in ihrem Theresienstädter Tagebuch. „Ist das eine Art Gesetz, auf dem unsere Welt gründet, nach dem sich alles ausrichtet?“ Der Regisseur Olek Witt brachte 2019 in Dresden Helgas Tagebuch unter diesem Titel
Was ist das Herz der Welt?
auf die Bühne. Bei seinem Gespräch mit Helga in Wien, das er mit der Kamera festhielt, fragte er sie, wie sie heute darauf antworten würde. Spontan und mit einem sichtbaren Anflug von Wehmut sagte sie: „Heute würde ich fragen: „
Wo
ist das Herz der Welt?“
An all das habe ich gedacht, aber in meiner Rede nicht gesagt. Ich zitierte Worte von Thomas Mann, geschrieben im amerikanischen Exil 1938 angesichts der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik durch Hitler und seinen NS-Staat, angesichts des Verrats von München Ende September 1938:
„Geist und Vernunft, seit manchen tausend Jahren gewöhnt, daß es nicht nach ihnen geht auf Erden, sind wahrhaftig nicht widerlegt, geschlagen und Lügen gestraft durch einen so absurden Sieg. (...) Wahrheit und Vernunft - [ich füge hinzu: Menschlichkeit] - mögen im Äußeren unterdrückt sein für eine schwarze Weile, – in uns bleiben sie ewig frei (...) im sicheren Bunde mit allen Besten.“
Im sicheren Bunde mit allen Besten.
Diese Vorstellung wurde für mich eine Art von innerem Halt, nicht zuletzt dank der Freundschaft mit Überlebenden vom Zimmer 28, Mädchenheim L 410 im Ghetto Theresienstadt, die mich über viele Jahre getragen hat; dank meinen Freunden und unserem Room 28 Freundeskreis, der am 12. Oktober auf wunderbare Weise größer geworden ist. Am Ende meiner Rede erinnerte ich an die Hymne der „Mädchen von Zimmer 28" , die von der Schüler*innen des OWG gesungen wurde und in der es heißt:
"Wir werden das Böse bekämpfen und uns den Weg zum Guten bahnen. Vorher kehren wir nicht nach Hause zurück."
Zu meiner großen Überraschung las ich ein paar Tage später in dem Blog von Yossi Klein Halevi
diesen Satz: „The war against evil is ultimately a spiritual war.
Divine protection for Israel, the Torah warns us, is conditional on our behavior. You shall purge the evil from your midst,
it commands. "Der Krieg gegen das Böse ist letztlich ein geistiger Krieg.
Der göttliche Schutz für Israel, so warnt uns die Torah, hängt von unserem Verhalten ab.
Ihr sollt das Böse aus eurer Mitte vertreiben,
befiehlt sie.
Ein Satz aus der Torah! Jetzt erst erschließt sich mir die tiefere Bedeutung der Zeilen in der „Hymne der Mädchen von Zimmer 28“. Es ist ein universelles, jahrtausendealtes Gebot.
Ein geistiger Krieg
“To win this war against evil requires steadiness and balance”, so Yossi Klein Halevi
in seiner Stellungnahme zum 7. Oktober. (Um diesen Krieg gegen das Böse zu gewinnen, braucht man Standfestigkeit und Ausgeglichenheit.) “Leftwing Jews need to understand that the Jewish people cannot afford the purity of powerlessness, while rightwing Jews need to understand that power requires moral limits. As a people, we must not be indifferent to the anguish of Gaza. And we must not allow that anguish to undermine our resolve to destroy Hamas. „Linke Juden müssen verstehen, dass sich das jüdische Volk nicht leisten kann, machtlos und rein zugleich zu sein, während rechte Juden verstehen müssen, dass Macht moralische Grenzen erfordert. Als Volk dürfen wir nicht gleichgültig gegenüber dem Leid in Gaza sein. Und wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Schmerz unsere Entschlossenheit untergräbt, die Hamas zu vernichten.)
Ein schmaler Grat. Tödlicher Abgrund auf allen Seiten. Ein Himmel, der keinen Halt gibt. Es bleibt nur der spirituelle Weg. "Der Krieg gegen das Böse ist letztlich
ein geistiger Krieg."(Yossi Klein Halevi).
Warum gehen so so viele Menschen in Berlin und anderen Städten von Wut und Hass gegen Israel getrieben auf die Straße, schwingen palästinensische Flaggen und kennen nur einen Feind: die Israelis? Warum gehen sie nicht auf die Straße gegen den eigenen Feind in ihrer Mitte, gegen die mörderischen Kreuzzüge der Hamas? Die Hamas ist an keinem Frieden, an keiner Annäherung, an keiner Lösung des Nahost Konflikts interessiert. Sie hat nur ein Ziel: Israel zu vernichten. Und zögert keinen Augenblick, das eigene Volk mit in ihren Abgrund zu ziehen.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen: Israel ist nicht das erste Land, dass gegründet wurde. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Landesgrenzen tausendfach verschoben und verändert und haben sich neue Staaten gegründet. Doch niemals hat ein Volk mehr Grund gehabt, sein eigenes Land zu gründen!
Das „Böse“ ist mehr als die Organisation der Hamas, mehr als die Hisbollah, mehr als die Organisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS), mehr als Al-Quaida und wie die Terrorgruppen alle heißen. Ein geistiger Krieg
gegen das Böse setzt die Erkenntnis aller Menschen voraus, wirklich aller Menschen, Menschen aus allen unterschiedlichen nationalen, politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Kreisen - die Erkenntnis nämlich, dass Hass und Gewalt, Klage und Anklage, Terror und Krieg, Mord und Vergeltung zwar eine Zukunft haben - aber es ist eine Zukunft ohne Menschen.
Und wieder denke ich an die Verse von
Handa Pollak.
Hier das ganze Gedicht.
Die Erde ist rot von Blut
Das Jahr geht mühsam voran
Es ist Krieg
Mein Gott, es ist Krieg.
Die Schlachtfelder
Sind blutüberströmt
Die Erde ist so müde
Am Horizont steht der Augenblick
Der Hoffnungslosigkeit
Sogar die Sonne
Scheint durch Blut hindurch
Und spricht:
Brüder, hört damit auf
Euch gegenseitig zu ermorden!
Habt ihr nicht genug vom Krieg
Wisst ihr nicht
Dass ihr Menschen seid?
Es macht keinen Sinn
Menschen zu finden
Wenn es die Welt nicht mehr gibt.
Ruhig zieht der Mond am Himmel
Und auch er schaut traurig auf die Erde herab
Und sagt: Gott, siehst du nicht
Wie die Welt leidet?
Alles ist mit Blut bedeckt!
Unmöglich ist es, sich davon zu erholen
Wenn das Herz des Menschen
Erschossen wurde.